1. Widerstand gegen Ungerechtigkeit, Aussprache für Gerechtigkeit (haksızlığa karşı gelmek):

Der größte Teil der alevitischen Jugend identifiziert sich mit dieser Eigenschaft. Gemäß alevitischen Glauben war dies eine Eigenschaft vom 3. Imam Hüseyin. Imam Hüseyin war Enkelkind vom Heiligen Mohammed und Sohn vom 1. Imam Ali. Imam Hüseyin leistete Widerstand gegen ungerechte Ernennung von Yezid, Sohn von Muaviye als Kalif. Gegen die Ungerechtigkeit und Grausamkeit von Yezid lehnte er sich im Jahre 680 auf. Am 10. Oktober 680 n. Ch. wurden Imam Hüseyin und über 70 Anhänger in Kerbela von Yezit -Soldaten ermordet. Die Aleviten denken jedes Jahr an dieses dramatische Ereignis und erziehen ihre Kinder gegen Unrecht und Unterdrückung. Die alevitische Jugend ehrt auch aus dem gleichen Grund andere Persönlichkeiten, z. B. Pir Sultan Abdal, den Dichter und Freiheitskämpfer, der im 16. Jh. gegen die Osmanische Herrschaft kämpfte und in Sivas aufgehängt wurde.

 

2. Toleranz und Einverständnis (rızalık) im Alevitentum:
Das höchste Gebot der alevitischen Lehre ist die Toleranz.
Zur Begriffserklärung:
Toleranz(hosgörü) setzt einen Dialog(görüsme) zwischen Menschen voraus. Ohne Dialog keine Toleranz.
Die Endstufe der toleranten Haltung ist das Einverständnis (rıizalıik). Die Duldung (göz yummak)ist mehr oder weniger eine einseitige Entscheidung. Sie kann jederzeit einseitig beendet werden. Dagegen das Einverständnis beruht sich auf die beidseitige Akzeptanz.
Toleranz ist mehr als Tolerieren.
Das Gegenteil von Toleranz wäre der Egoismus (bencillik).

Um das Thema „ Toleranz im Alevitentum“ verstehen zu können, soll Glaubensinhalte der alevitischen Lehre einbezogen werden, weil die Toleranz in der alevitischen Lehre begründet ist.

Das höchste Gebot der Alevitischen Lehre ist die Toleranz (hosgörü). Im alevitischen Gebetbuch „Buyruk- das Gebot“ wird es mehrfach mit der Formulierung betont“ Betrachte 72 Volksgruppen gleich.“72 millete bir nazarla bak. Ein anderes alevitisches Sprichwort besagt gleiches mit folgender Formulierung: „Akzeptiere, die Geschöpfe dem Schöpfer wegen“ Yaratilani hos gör, yaratandan ötürü“.
Der Ausspruch vom Heiligen Haci Bektaşs Veli im 13.Jh. zur Toleranz: incinsen de incitme !: bedeutet etwa: Wenn Du auch beleidigt wirst, beleidige trotzdem nicht !
Der türkisch- alevitische Dichter und Mystiker Yunus Emre formulierte im 13 Jh. die tolerante Haltung wie folgt:

Adıimıiz miskindir bizim
Düşsmanıimıiz kindir bizim
Biz kimseye kin tutmayıiz
Kamu alem birdir bize.

Sie nennen uns Ergebende,
Wir haben nur einen Feind, der Haß
Wir Hassen niemanden
Alle sehen wir gleich und eins.
Yunus Emre

Ein anderer zentraler Begriff im Alevitentum ist rizalik, hosnutluk so gut wie: Zufriedensein, Einwilligung, Zustimmung.

Toleranz ist keine Eigenschaft, die angeboren ist sondern sie muß ständig gepflegt und gefördert werden, in der Familie ( unseres statt meins) und in der Kindertagesstätte und Schule (Religionsunterricht für alle statt konfezionelle RU), in den religiösen Gemeinden (zur Nächstenliebe) und nicht zuletzt in der Politik (Schutz der Minderheiten).
Dialog: Alevitische Gelehrten empfehlen ihren Glaubensgeschwistern bei jeder Gelegenheit folgendes:
Behandele! Deine Nachbarn wie dich selbst. Begrüße jeden Menschen, den du begegnest! Dabei geht dein Gruß an Gott.
Bekämpfung des Egoismus (bencillik veya benlik): Gegen den eigenen Egoismus zu kämpfen, ist die Lebensaufgabe für Aleviten. Viele Handlungen von Aleviten haben das Ziel, das eigene Ego zu bekämpfen und ihn zu besiegen.
Dieses Erziehungziel wird von Menschen, die es nicht hoch genug schätzen, oft als naiv und schädlich kritisiert.
Sie behaupten, dass alle diese Empfehlungen zur passiven Haltung führen würden. Der Mensch müsse sich aber in dieser leistungsorientierten Gesellschaft behaupten können.

Das Alevitentum kann in dieser multikulturellen Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Toleranz leisten. Wie die Aleviten von dieser Gesellschaft einige positive Verhaltensweisen übernahmen, kann die deutsche Gesellschaft auch, einiges von Aleviten übernehmen. Das würde das friedliche Zusammenleben ungemein fördern.


 

3. Gleichberechtigung aller Menschen, Gleichberechtigung von Mann und Frau (bacı-kardeşlerin birliği):

Die alevitischen Familien erziehen ihre Töchter und Söhne zur Gleichberechtigung. Die Frauen werden nicht als Provokation für den Sexualtrieb der Männer angesehen und nicht in erster Linie dafür verantwortlich gemacht.
Auch den Zwang zum Kopftuch gibt es bei Aleviten nicht. Sie können ohne Kopftuch an den Versammlungen teilnehmen, 12 Hizmet (12 Dienste) verrichten. Sie können bei allen Lebensbereichen mitbestimmen. Die Frauen können völlig frei ihre Meinung äußern, an den Diskussionen teilnehmen und Kritik ausüben. In der Gesichichte gab es zahlreiche ‘Ozan (Volksmusikerinnen), Sair (Dichterinnen) und sogar Führerinnen von alevitischen Frauen. Die Alevitenfrauen haben in Anatolien den Verein mit dem Namen Baciyan (Schwerterorden) gegründet, womit sie auch im gesellschaftlichen Kampf aktiv ihren Platz genommen haben.

Im Alevitentum ist die Heirat gleichzeitig mit mehreren Frauen verboten. Diejenigen(Männer), die sich von ihren Frauen ungerechterweise trennen, werden als düskün (ausgestoßen) gestempelt uns aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Heutzutage arbeiten alevitische Frauen verantwortungsvoll in jedem Lebensbereich. Die Aleviten würden ihren Status in der Gesellschaft in dem Maße verbessern, wie sie sich an den Aktivitäten der Organisation beteiligen. Der erste Schritt in dieser Richtung sollte auf dem Bildungsbereich getan werden. Auch die Lösungen frauenspezifischer Probleme wären durch die Bildungsarbeit leichter. Dieser Kampf macht gleichzeitig das Engagement der Männer erforderlich.
Haci Bektas Veli: „Bildet die Frauen!“

 

4. Aufteilung der Güter zum Gemeinwohl (toplumsal paylaşımcılık):

In der Gebetsversammlung Cem bringt jeder irgendetwas Eßbares mit, was dort portioniert und gerecht an alle Gemeindemitglieder und Besuchern verteilt wird. Nach alevitischer Tradition gibt es zur Förderung dieses Zieles eine Institution Namens „Wegbrüderschaft“. Das heißt, daß die alevitischen Familien in der Gemeinde Familienpaare bilden und ihre Güter und Ressorts auf Dauer bündeln. Die Kinder lernen sehr früh die Güter mit anderen Kindern zu teilen. Das fördert die Beziehungsfähigkeit der Kinder.

Die oben aufgezählten Ziele der alevitischen Eltern sind mehr oder weniger Universalwerte. Das Alevitentum kann in dieser multikulturellen Gesellschaft einen wichtigen Beitrag zur Förderung der o.g. Eigenschaften leisten.

 

 

Ismail Kaplan-Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Deutschland e. V